Die Klimakrise drängt, die Energiewende nimmt Fahrt auf, der Wandel muss noch schneller werden – so hatte das Planungsteam der ETG bereits vor anderthalb Jahren das Thema des diesjährigen Kongresses umrissen. Das war, bevor es einen Krieg in der Ukraine, eine Energiekrise und darauf folgende Oster- und Sommerpakete gab. Nun geht alles noch schneller als gedacht. Entsprechend groß ist das Interesse. Fast 360 Tagungsgäste sind für den ETG Kongress 2023 in Kassel zusammengekommen, 115 Beiträge sollen in den nächsten Tagen präsentiert werden. Die Teilnehmenden kommen nicht nur von Netz- und Energietechnik-Unternehmen, sondern auch von Universitäten und Forschungseinrichtungen, viele junge Menschen sind darunter. Turnschuhe zum Anzug sind eine häufige Kombination, Krawatten sieht man selten. „Wir werden in diesem Wandel auch alte Eckpfeiler umwerfen müssen – und dann müssen wir neue parat haben“, kündigt Tagungsleiter Dr. Michael Schwan gleich in der Eröffnungsrede an. Dabei gehe es nicht nur um Technik. Auch für die Wirtschaftlichkeit müsse es Rahmenbedingungen geben, die zur neuen Energiewelt passen. „Wo wird das Geld hingelenkt? Kommt es dort an? Und wie fließen Investitionen wieder zurück?“, fragt Schwan. Diese Fragen und mögliche Antworten werden in den nächsten Tagen immer wieder Thema sein.
ETG Kongress 2023 - Von Elektronen und Emotionen
Akzeptanz kann man nicht „schaffen“
Je schneller die Energiewende vorangeht, desto deutlicher wird ihre gesellschaftliche Relevanz. Elektrische Energie wird der Dreh- und Angelpunkt im Energiesystem der Zukunft. Wasserstoff, Netzausbau, Leistungselektronik, Regelenergie und Smart Meter tauchen immer öfter auch in den Publikumsmedien auf – oft mit wenig Kontext, dafür umso mehr emotionaler Aufladung. Wird der Strom knapp? Bekomme ich Krebs von der neuen Freileitung? Und muss das alles überhaupt sein?
Kommunikation und Kooperation über fachliche und gesellschaftliche Barrieren hinweg sind daher weitere Themen, die sich durch die gesamte Tagung ziehen – so auch bei der Podiumsdiskussion zum Auftakt der Konferenz. „Was wir brauchen, ist ein gemeinsames Storybook für die Energiewende“, umschreibt es Nadine Bethge. Die studierte Landschaftsplanerin leitet heute stellvertretend den Bereich Energie und Klimaschutz bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und hat schon viele Beteiligungsprozesse zum Stromnetzausbau begleitet und moderiert, unter anderem im Auftrag des BMWI. Wie wichtig eine gemeinsame Idee ist, um gesellschaftlich an einem Strang zu ziehen und die gut 80 Millionen Menschen in Deutschland so gut wie möglich mitzunehmen, weiß sie daher aus erster Hand.
Bethge warnt vor dabei vor der kommunikativen Einbahnstraße. „Akzeptanz kann man nicht ‚schaffen‘. Man muss auch zuhören und Dinge mitnehmen können“, sagt sie – und erntete dafür spontanen Applaus. Judith Pirscher, Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), stößt ins gleiche Horn. „Es geht nicht darum, Menschen zu belehren, sondern darum, ernst zu nehmen, was man hört. Darin stecken Ängste und auch Gerechtigkeitsfragen. Wir werden solche Fragen klar beantworten müssen“, sagt sie.
Von der Sektorenkopplung zum System der Systeme
Auch innerhalb der Fachwelt wird das integrierte Denken in ganzen Systemen immer wichtiger. Es geht nicht mehr um einzelne Schnittstellen zwischen Sektoren, die sich lastenheftartig beschreiben lassen. Die ETG-Vorsitzende Dr. Ing. Britta Buchholz beschreibt die neue Energiewelt als „System von Systemen“. Darin greifen zentrale und dezentrale Systeme ineinander, Moleküle und Elektronen, Gleich- und Wechselstrom, Mobilität und Industrieprozesse.
Während in der wohlsortierten alten Welt die Ingenieurs-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Paralleluniversen waren, die jede für sich ihre Perspektive darlegen konnten, heißt das Zauberwort heute Transdisziplinarität. Das war auch ein Kerngedanke der Kopernikus-Forschungsinitiative, deren Projekte auf der Konferenz eine wesentliche Rolle spielten. „Über Transdisziplinarität wird oft geredet, aber weitaus weniger oft gelingt es, sie wirklich zum Leben zu erwecken. In den Kopernikus-Projekten ist es gelungen, diesen integrativen Ansatz wirklich einzulösen“, beschreibt Prof. Dr. Jochen Kreusel, Global Head of Market Innovation bei Hitachi Energy und Mitglied des VDE Präsidiums seine Erfahrungen. „Am Anfang haben auch dort noch alle noch an ihren eigenen Paketen gearbeitet. Mit Zeit haben dann beide Seiten ihre Herangehensweise geändert. Das zeigt, dass die Methode etwas gebracht hat. Das zu würdigen ist wichtig, gerade weil es von außen nicht so sichtbar ist“.
Das transdisziplinäre Denken beginnt schon bei scheinbar eng verwandten Disziplinen wie Volks- und Betriebswirtschaft. Beim Versuch, eine passende Regulatorik für die Energiewende zu finden, treffen hier Interessen aufeinander, zeigte sich in der Diskussion. Eine gute Regulatorik muss nicht nur Freiheiten für Innovationen bieten, sondern zum Beispiel dafür sorgen, dass diejenigen Entscheidungen im betriebswirtschaftlich lohnen, die auch volkswirtschaftlich sinnvoll sind. „Bisher ist das Geschäftsmodell für den Netzbetrieb zu statisch, operative Mehrkosten für mehr Flexibilität spiegelt der Anreizrahmen nicht wieder“, sagt Philipp Artur Kienscherf vom Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität zu Köln (Ewi). Das Ergebnis: Für die Netzbetreiber lohnt sich der teure Leitungsbau eher als deutlich günstigere operative Maßnahmen. Auch Ingenieure verschiedener Disziplinen und Branchen können leicht aneinander vorbeireden, wie die Debatte um das Laden von Elektroautos zeigt. „Nicht nur die systemische Sicht der energietechnischen Experten hat ihre Berechtigung. Auch die Automobilindustrie hat ihre Beweggründe. Wir müssen miteinander sprechen und die richtigen Fragen stellen“, sagt Kreusel. „Wenn Industrien sich gegenseitig bekämpfen, verlangsamt das die Energiewende“.
Spürbar ist die Offenheit für andere Sichtweisen auch auf der Konferenz: Elektrotechnik, Digitalisierung, Klimaschutz und Kommunikation sind in Vorträgen, Gesprächen und Rückfragen oft eng miteinander verwoben. Ein Zuhörer berichtet vom gemeinschaftlichen Eigenverbrauch in Mehrfamilienhäusern, der in Österreich bereits möglich sei, und durch den direkten Nutzen Akzeptanz steigere. Ein Referent erzählt von einem Experiment bei der „Nacht der Wissenschaften“, bei dem die Teilnehmenden das elektromagnetische Feld an einer Freileitung (30 µT) und an einer Bohrmaschine (80 µT) selbst nachmessen konnten.
Kann die dezentrale Energiewelt auch Redispatch?
Unter den Fachvorträgen hervorheben lässt sich der Block zum Thema Redispatch, bei dem sich hinter den voll besetzen Stühlen die Zuschauenden in zwei stehenden Reihen drängen. Christiane Schiller von 50Hertz und Christoph Brosinsky von den Thüringer Energiewerken berichten mit offenen und deutlichen Worten von den Erfahrungen mit dem Pilotbetrieb zum Redispatch 2.0, an dem bereits Anlagen ab 100 kW Nennleistung teilnehmen sollten.
Nach einem schwierigen Start begann der Pilotbetrieb bei 50Hertz und zwei Verteilnetzbetreibern im Juni 2022. „Mittlerweile ist das Redispatch 2.0 im operativen Betrieb mit Einschränkungen. Unser Ansatz ist ein Minimum Viable Process“, sagt Brosinsky. Bevor es ans weitere Rollout geht, soll aber erstmal eine vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) koordinierte Taskforce für klare Rahmenbedingungen sorgen.
Auf der Konferenz war auch das Redispatch 3.0 bereits Thema, das bis in die Prosumerebene hineinreichen soll. Fahrpläne gibt es dort nicht mehr – stattdessen müssen Künstliche Intelligenz und austarierte Anreize dafür sorgen, dass hunderttausende Wärmepumpen und Elektroautos sich netzgerecht verhalten. Wie das zumindest theoretisch gehen kann, diskutieren Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber, Industrieunternehmen und Standardisierungsorganisationen noch bis Ende 2024 in einem Forschungsprojekt.
Ausgezeichnet: Großes Engagement und gute Poster
Nach zwei intensiven Konferenztagen waren am Freitagnachmittag noch einige Auszeichnungen zu vergeben. Die erste war der Herbert-Kind-Preis, den die VDE ETG jährlich für besondere Studienleistungen verleiht und der ein Stipendium in Höhe von 5.000 Euro für einen Auslandsaufenthalt beinhaltet. Er ging in diesem Jahr an Lisa Reis, die gerade ihren ihren Master in Elektrischer Energietechnik abgeschlossen hat. Ihr Stipendium nutzte sie für ihre Masterarbeit im norwegischen Trondheim. In Kooperation mit dem Forschungsinstitut SINTEF Energy Research untersuchte sie dort mit einem Echtzeitsimulator, wie sich Offshore-Windenergie ins norwegische Netz integrieren lässt – und konnte während ihrer Arbeit am Schreibtisch nebenbei die Nordlichter beobachten.
Der Träger des ETG-Awards, Dr. Martin Kleimaier, erhielt den Preis als ein „seit vielen Jahren besonders aktives Mitglied“ der ETG. Seit 2017 setzte er neue Akzente im Fachbereich Erzeugung, rückte die Erneuerbaren Energien und Stromspeicher in den Vordergrund. Das machte sich nicht nur in Hintergrundpapieren bemerkbar, sondern wenn nötig auch in schnellen öffentlichen Reaktionen. Als zu Beginn der Energiekrise ein Hype um Heizlüfter ausbrach, reagierte Kleimaier schnell mit offensiver Aufklärungsarbeit und Interviews in Publikumsmedien. Dass sich das Engagement in einem Preis niederschlägt, hatte er nicht erwartet. „Ich war geflasht“, sagt er.
Über die besten Poster der Konferenz hatte das Publikum per App abgestimmt. Die drei Poster-Awards gingen an Markus A. Koch (Low Voltage Laboratory Grid for Smart Grid Systems with Bi-Directional Power Flows, Andreas Winter (Application of artificial neural networks for power system state estimation - Validation with a weighted least squares algorithm) und Soham Choudhury (Dezentrale Leistungsflussregelung mit Unified Power Flow Controller in Übertragungsnetzen).
Mehr Kommunikation und transdisziplinäres Arbeiten, mehr Sichtbarkeit für Innovationen, mehr Begeisterung – mit diesen Worten lassen sich die Zukunftswünsche und Vorsätze zusammenfassen, die die Teilnehmenden mit nachhause nehmen. Tagungsleiter Schwan sagt es mit einem Sprichwort: „Tu Gutes und rede darüber – auch auf Social Media“.
Flexibilität: Wenn die Selbstoptimierung nach hinten losgeht
Noch vor dem offiziellen Konferenzstart stellten zwei VDE ETG Taskforces ihre Ergebnisse vor. Im einen Raum ging es um die Flexibilisierung des Energiesystems, nebenan darum, wie ein Digitaler Zwilling in der Netz- und Elektrizitätswirtschaft weiterhelfen kann.
Martin Wolter, Leiter des Institutes für Elektrische Energiesysteme (IESY) an der Universität Magdeburg fasst die Ergebnisse der Taskforce Flexibilität zusammen. Am Anfang steht eine simple Erkenntnis: „Die Flexibilität der Erzeuger wird schrumpfen, die Flexibilität der Verbraucher wächst.“
Definiert hat die Taskforce Flexibilität als die Fähigkeit von Netznutzern (Verbraucher, Speicher und Erzeuger), ihr aktuelles oder zukünftiges Verhalten gezielt und dynamisch anzupassen. Doch auf wessen Erfordernisse reagieren diese flexiblen Nutzer überhaupt? Am weitesten verbreitet ist bisher die Ausrichtung am Eigenbedarf, zum Beispiel mit Hilfe von Speichern oder Lastverschiebungen, um Bandlasten auszuschöpfen oder Leistungsspitzen zu vermeiden. Wer Flexibilität so nutzt, profitiert schon heute finanziell erheblich. Neben dieser Eigenoptimierung beschreibt die Taskforce einen netzorientierten Einsatz der Flexibilität (Spannungshaltung, Engpassmanagement) und einen systemorientierten Einsatz (Ausrichtung am Strommarkt, Frequenzhaltung). Die Crux: Die Regierung hat hohe Anreize für die Eigenoptimierung gesetzt, begründet im Glauben, das würde auch dem Netz und dem System nutzen. „Tatsächlich reizt die Selbstoptimierung auch Speicherzyklen an, die volkswirtschaftlich gar nicht sinnvoll sind“, sagt Wolter.
Weitere Details gibt es Ende des Jahres auf einem eigenen Workshop der Taskforce zu berichten.
Tagungsband
Energietechnische Gesellschaft im VDE (VDE ETG) (Hrsg.)
ETG-Fb. 170: ETG-Kongress 2023
Die Energiewende beschleunigen
25. – 26. Mai 2023, Kassel
ETG Fachberichte
ISBN 978-3-8007-6108-1 (CD-ROM) ISBN 978-3-8007-6109-8 (E-Book) ISSN 0341-3934
2023, VDE VERLAG GMBH · Berlin · Offenbach, Bismarckstraße 33, 10625 Berlin, Germany
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